Wenn Psyche und Körper eine Sprache sprechen: Warum wir über mentale Gesundheit im Schlafzimmer reden müssen
Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch mit einer Freundin, die mir eines Abends bei einem Glas Wein sehr offen von ihrer Angststörung erzählte. Sie sprach nicht nur über Panikattacken und Grübeleien, sondern auch darüber, wie schwierig es sei, Nähe zuzulassen – körperlich wie emotional. Damals wurde mir einmal mehr bewusst: Mentale Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen haben einen massiven Einfluss auf unsere Intimität, unsere Lust und unser sexuelles Erleben. Und trotzdem wird darüber so selten gesprochen.
In meiner Arbeit als Journalist, der sich auf Sex- und Beziehungsdynamiken spezialisiert hat, habe ich dutzende Gespräche geführt – mit Betroffenen, mit Therapeut:innen, mit Paaren in alle möglichen Lebensphasen. Und dabei wurde klar: Um unsere Sexualität in gesunder Weise zu leben, genügt es nicht, nur über Stellungen, Techniken oder Libido zu sprechen. Wir müssen auch über psychische Gesundheit reden. Denn sie ist untrennbar mit unserem Intimleben verbunden.
Wie Depressionen unsere Lust lähmen können
Depression ist eine Erkrankung, die sich nicht nur im Kopf abspielt, sondern auch auf den Körper schlägt. Die Energie sinkt, das Interesse an Dingen, die früher Freude bereitet haben, nimmt ab, der innere Rückzug beginnt. Kein Wunder also, dass auch das sexuelle Verlangen oft schwindet. Was viele nicht wissen: Der Verlust der Libido ist ein häufiges Symptom der Depression – und nicht etwa ein persönliches Versagen.
In mehreren Gesprächen mit Betroffenen wurde mir beschrieben, wie belastend gerade dieser Aspekt sein kann: Nicht nur, dass man sich selbst fremd wird, weil man keine Lust mehr verspürt, sondern auch, weil man Angst hat, den:die Partner:in zu enttäuschen. Der Druck steigt, obwohl die eigentliche Ursache eine Erkrankung ist, über die niemand so recht reden will.
Und als wäre das nicht genug, können auch Medikamente wie Antidepressiva das sexuelle Empfinden beeinflussen – insbesondere die Gruppe der SSRIs, die häufig zu Orgasmusstörungen oder einem verminderten sexuellen Verlangen führen. Ein weiterer Faktor, der Belastung in die Intimität eines Paares bringen kann.
Angststörungen und die Schwierigkeit, Nähe zuzulassen
Bei Angststörungen sieht die Lage etwas anders – aber nicht minder komplex – aus. Menschen mit generalisierter Angst oder Panikstörung berichten mir häufig, dass sie Probleme damit haben, sich zu entspannen – eine Grundvoraussetzung für erfüllende Sexualität. Wenn der Körper ständig in Alarmbereitschaft ist, wenn das vegetative Nervensystem kaum zur Ruhe kommt, dann bleibt auch für sexuelles Erregungspotential wenig Raum.
Oft kommt hinzu, dass Scham eine große Rolle spielt. Wer mit sozialer Angst lebt, hat vielleicht Hemmungen, sich nackt zu zeigen. Körperliche Nähe kann sich bedrohlich anfühlen, statt wohltuend. Und wenn die Angst mit einer posttraumatischen Belastungsstörung einhergeht – zum Beispiel nach sexuellen Übergriffen – kann Sexualität komplett negativ belegt sein, auch in einem sicheren, liebevollen Umfeld.
Es geht also nicht „nur“ um Sex, sondern um Vertrauen, Kontrolle und emotionale Sicherheit. Alles Bereiche, die bei Angststörungen aus dem Gleichgewicht geraten können.
Was Betroffene und Paare gemeinsam tun können
So düster das jetzt vielleicht klingt: Es gibt viele Wege, wie man als Paar mit diesen Herausforderungen umgehen kann. Ich möchte einige davon teilen – nicht als Rezept, das bei allen gleich funktioniert, sondern als Einladung zum Gespräch. Denn darum geht es im Kern: sich gegenseitig zuzuhören, ohne Druck, ohne Vorwürfe, mit echter Neugier und Mitgefühl.
- Sprecht offen über eure Gefühle: Es klingt banal, aber ist oft das Schwerste: sich einzugestehen, dass etwas nicht stimmt – und das auch laut auszusprechen. Mit einem Satz wie „Ich merke, dass ich mich gerade nicht so verbunden fühle und weiß nicht genau, woran es liegt“ kann ein Gespräch beginnen, das Veränderung ermöglicht.
- Entkoppelt Sex von Leistung: Sexualität ist keine To-do-Liste. Wenn Lust nur noch als Pflicht empfunden wird, wenn es nur noch darum geht, es dem anderen „recht zu machen“, entsteht Druck, der Intimität erstickt. Versucht, das Spektrum von Intimität neu zu definieren – Kuscheln, Massagen, gemeinsames Duschen können ebenso Nähe schaffen.
- Bindet therapeutische Hilfe aktiv ein: Eine sexualtherapeutisch geschulte Fachperson kann helfen, die Zusammenhänge zwischen Psyche und Sexualität zu verstehen. Auch Paargespräche in psychotherapeutischen Settings bringen oft neue Perspektiven – und entlasten euch als Paar.
- Akzeptiert zyklische Phasen: Lust ist nicht linear. Sie kommt, sie geht. Gerade in Phasen psychischer Belastung verändert sie sich. Solange beide Partner:innen respektvoll und achtsam damit umgehen, muss das nicht das Ende der Intimität bedeuten.
- Schafft sichere Räume: Manchmal hilft es schon, ein Ritual zu entwickeln – eine bestimmte Zeit der Woche, in der es ausschließlich um emotionale Nähe geht. Kein Sex-Ziel. Kein Körperstress. Einfach Verbindung und Sicherheit.
Warum Schweigen uns krank macht
Ich glaube, das größte Problem in vielen Partnerschaften ist nicht der Libidoverlust oder die Angst vor Nähe – sondern das Schweigen darüber. Viele Menschen denken, sie seien „kaputt“, „unnormal“ oder eine „Last“, wenn psychische Erkrankungen ihren Alltag bestimmen. Diese Scham zieht sich dann auch in die Beziehung. Man wartet auf einen besseren Moment, um den eigenen Schmerz zu teilen – der oft nie kommt.
Genau deshalb braucht es einen offenen Diskurs darüber, wie stark mentale Gesundheit mit unserer gelebten Sexualität verbunden ist. Wir müssen anfangen, neue Narrative zu entwickeln – solche, in denen Lust mehr ist als reine Funktion und Sex nicht immer mit Penetration endet. In denen emotionale Nähe genauso wertvoll ist wie körperliche und in denen menschliche Verletzlichkeit Platz haben darf.
Ein Aufruf zur radikalen Ehrlichkeit
Ich weiß, wie schwierig es ist, sich dem Menschen, den man liebt, in seiner verletzlichsten, vielleicht sogar schambesetzten Form zu zeigen. Zu sagen: „Ich bin gerade nicht ich selbst. Ich habe keine Lust. Nicht auf dich, sondern überhaupt.“ Oder: „Ich brauche mehr Nähe, aber mein Kopf lässt es nicht zu.“ Doch ich habe gelernt: Diese Ehrlichkeit ist ein Geschenk – an sich selbst und an die Beziehung.
Sexuelle Gesundheit ist keine Privatsache im engeren Sinn. Sie ist Teil unseres sozialen, emotionalen und psychischen Wohlbefindens. Deshalb ist es Zeit, Intimität anders zu denken – nicht als performative Disziplin, sondern als etwas zutiefst Menschliches, das uns gerade in Krisenzeiten zeigen kann, wie tief Verbundenheit wirklich geht.